Kurze Geschichten über kleine Nöte im Alltag (2/4)

Feindbild Feiertage

Auch Silvia verbindet Feiertage mit Fest, Freude, Liebe, Entspannung, Schenken… so wie alle. Nur: Bei ihr gibt’s eben kein Fest, keine Freude, keine Liebe, keine Geschenke, und schon gar keine Entspannung.

Wie schmerzhaft sind stets die Bemerkungen ihrer Arbeitskolleginnen und Nachbarn, dass sie auf die Feiertage hin soviel zu erledigen hätten, damit auch niemand in der Familie zu kurz komme. «Was für ein Stress, diese Feiertage…», dieses Klagelied der andern sitzt wie ein Dolchstoss mitten ins Herz. Ja, was für ein Stress, denkt Silvia bitter. Meiner aber ist anders. Meiner lautet: Wie verbringe ich bloss die einsamen Tage, wenn alle absorbiert sind von Familienfreuden?

Ostern stehen vor der Tür. Gewiss, so schrecklich lange sind diese Festtage nicht – viel schlimmer ist jeweils die Weihnachtszeit. Sie beginnt bereits mit der Kerze, die am 1. Advent angezündet wird, dem Adventskalender, den Mütter ihren Kindern liebevoll gestalten, dem feinen Duft von Zimtsternen, der betörend das Treppenhaus ihres Wohnblocks erfüllt, den verstopften Einkaufszentren, voll von Menschen, die für ihre Liebsten das passende Geschenk suchen. Endlos dann die arbeitsfreien Tage, auf die alle mit Vorfreude hinfiebern. Für Silvia sind sie ein Feind. Denn sie sitzt allein in ihrer Wohnung, und empfindet das stumme Telefon als schiere Bedrohung. Aber die Osterzeit ist nicht so schlimm – denkt Silvia tapfer, sie ist kürzer.

Sicher gibt es Menschen, denen es ähnlich geht wie mir. Man findet sie nicht. Sie sitzen, wie sie, allein in ihrer Wohnung, und lassen sich vom Telefon anschweigen. Gibt es etwa an der Arbeit, in ihrem Umfeld Leute wie sie, die erstaunlich still sind, wenn über die bevorstehenden Festtage diskutiert wird? Sitzen sie dann nicht im selben Boot wie ich? Was ist mit Christina und ihrer kleinen Tochter? Sind die beiden wirklich so familiär-glücklich eingebettet, oder fällt ihnen vielleicht auch die Decke über den Kopf? Wäre Herr Bruderer vielleicht dankbar für eine gemeinsame Unternehmung, um der Einsamkeit zu entkommen? Vielleicht ist es ja ähnlich wie mit der Armut, grübelt Silvia weiter. Über sie spricht man ebenso wenig wie über Einsamkeit.

Dem Alleinsein kann ich nur entkommen, wenn ich ihm den Kampf ansage, denkt sie nun entschlossen. Ich muss mich outen. Das kostet mich was. Aber habe ich eine Wahl? Und die Antwort findet sich auf einmal wie von selbst: Ich habe keine Wahl – ich habe eine Chance!

Karin Landolt
Journalistin, Moderatorin, Texterin




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